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7 Sprachwandel1

Spanisch heute – diachron betrachtet

Der Ausgangspunkt dieses Kapitels ist die Gegenwartssprache. Sie weist aufgrund ihrer weltweiten Verbreitung und der damit verbundenen Variation eine hohe Komplexität auf, die im modernen Fremdsprachenunterricht zumindest in Grundzügen präsent sein sollte (vgl. die Kapitel zu Variation und Plurizentrik). Die Geschichte des Spanischen gehört hingegen weniger zum schulischen Spanischunterricht, obwohl sie eigentlich hilft, die heutige Form der Gegenwartssprache besser zu verstehen. Aus dieser Überlegung heraus soll in diesem Kapitel keine Sprachgeschichte im traditionellen Sinn, sondern ein diachroner Blick auf die Gegenwart geboten werden: Ein Kapitel zum Sprachwandel fügt sich hier insofern ein, als die Gegenwartssprache unter dem Aspekt des Wandels betrachtet werden soll.

Wer es nochmal wissen will: Eine sehr kurze Geschichte des Spanischen

Die Geschichte des Spanischen beginnt mit dem gesprochenen Latein, dem Vulgärlatein, das mit der römischen Expansion ab dem 3. Jh. v. Chr. auf die Iberische Halbinsel gelangte. Dieses gesprochene Latein bildet den Ursprung aller romanischen Sprachen. Doch es überlagerte nicht einfach die zuvor dort gesprochenen Sprachen wie Keltiberisch, Iberisch oder Baskisch, sondern wurde von ihnen beeinflusst. Solche Substrateinflüsse prägten die Aussprache und bestimmte Strukturen des Lateins auf der Halbinsel und erklären bis heute einige Eigenheiten des Spanischen im Vergleich zu anderen romanischen Sprachen.

Nach Zerfall des Römischen Reiches entwickelten sich regional unterschiedliche romanische Primärdialekte. Im Norden entstand der kastilische Dialekt, der sich während der Reconquista durchsetzte und ab dem 13. Jh. zur Schriftsprache ausgebaut wurde.

Im mittelalterlichen Al-Andalus wurden spanische Varietäten (Mozarabisch) durch arabischen Einfluss stark bereichert. Ab dem 15. Jh. gelangte das Kastilische mit der spanischen Expansion bis nach Amerika. Dabei wurden auch zahlreiche Wörter aus indigenen Sprachen übernommen.

Heute gilt Spanisch als eine Weltsprache. Sein Status wurde durch Kolonialismus, Migration und Institutionalisierung (z.B. die Real Academia Española) gefestigt.

Das Kapitel versteht die Formen und Strukturen des Gegenwartsspanischen also als vorläufige Resultate des unaufhörlichen Sprachwandels. Maßgeblich ist die Einsicht, dass viele Unregelmäßigkeiten und scheinbare Ausnahmen in Grammatik, Lautsystem und Wortschatz nur diachron – also in der historischen Betrachtung – nachvollziehbar werden. Dadurch lassen sich gerade jene Phänomene erklären, die im Unterricht regelmäßig Schwierigkeiten bereiten.

Auch wenn die Darstellung keine direkte Didaktisierung verfolgt, ist sie auf (angehende) Lehrkräfte zugeschnitten: Wer die historischen Hintergründe kennt, kann das heutige System klarer einschätzen. Was sonst willkürlich wirkt, zeigt sich als Produkt regelmäßiger Entwicklungen. Dieses Wissen macht den Unterricht sprachlich fundierter und kann ihn auch für Lernende an zentralen Stellen transparenter machen. Die diachrone Perspektive ist somit ebenfalls ein kleiner Baustein und kann ein wichtiges Werkzeug für den fachlich fundierten Unterricht sein.

Nach einer allgemeinen Übersicht über grundlegende Prinzipien des Sprachwandels, die das Verständnis der Beispiele vorbereiten, richtet sich der Blick dieses Kapitels auf Strukturen, die für Lernende besonders oft Herausforderungen darstellen, weil sie von den erlernten regelmäßigen Mustern abweichen: die Unregelmäßigkeit vor allem der häufigsten Verben (z.B. ir → voy, saber → sé), die unerwartete Genuszuweisung (la mano) oder Artikelform (el agua) bei einzelnen Substantiven, lautliche Alternationen innerhalb eines Paradigmas (poder → puedo / podemos) sowie weitere scheinbare Ausnahmen, die sich erst in diachroner Perspektive als systematisch nachvollziehbar erweisen.

Wie und warum wandeln sich Sprachen?

Sprache verändert sich ständig. Sie ist kein fertiges Gebilde, sondern wird im Sprechen von jedem einzelnen Sprechenden immer neu hervorgebracht. Jede Veränderung beginnt dabei in alltäglichen Redesituationen, in denen die Sprecher:innen ihre Äußerungen – manchmal sehr kreativ – an das, was sie gerade ausdrücken wollen, anpassen. Manche dieser Verwendungen, sei es eine neue Wortschöpfung, ein aus dem Englischen entlehntes Wort (Anglizismus) oder gar eine andere Wortstellung, wird von anderen aufgegriffen und verbreitet sich. Einige verbreiten sich irgendwann in der gesamten Sprachgemeinschaft und werden schließlich als ‚normale‘ Form empfunden.

Für Lehrkräfte ist diese Perspektive wichtig: Viele scheinbar willkürliche Eigenheiten von Fremdsprachen – unregelmäßige Verben, überraschende Genuszuweisungen oder auffällige Lautungen – sind nichts anderes als Spuren solcher Veränderungen. Wer diese Zusammenhänge kennt, kann Lernenden verdeutlichen, dass Sprache nicht zufällig ‚Ausnahmen‘ produziert, sondern sich in nachvollziehbaren Prozessen entwickelt.

Sprachwandel – linguistisch betrachtet

Sprachwandel ist kein Randphänomen, sondern ein ingetraler Teil des Wesens von Sprache. Eugenio Coseriu hat Sprache als energeia beschrieben: Das Sprechen ist demzufolge immer auch schöpferische Tätigkeit, wodurch sich Sprache erneuert. Jede sprachliche Äußerung kann kleine Veränderungen hervorbringen, die – wenn sie von anderen übernommen werden – Teil des Systems werden. Vor diesem Hintergrund lassen sich die wichtigsten Prinzipien des Sprachwandels verstehen.

Einerseits strebt Sprache nach Ökonomie: Sprecher:innen verkürzen, vereinfachen und glätten Formen, damit Kommunikation leichter und schneller gelingt. Andererseits wirkt das gegensätzliche Prinzip der Expressivität: Sprache dient nicht nur der Verständigung, sondern auch dem Ausdruck und der Aufmerksamkeit. So entstehen Verstärkungen, Übertreibungen und anschauliche Bilder, die im Lauf der Zeit ihren besonderen 'Mehrwert' verlieren und zum Normalwort werden, wie beim sp. trabajo oder fr. travail, das einst (vermutlich) ‘Folterinstrument’ bedeutete und heute das Normalwort für ‘Arbeit’ ist.

Neben diesen Kräften wirkt die Analogie: Neue Formen passen sich bestehenden Mustern an. Darum hat sich im Deutschen ich buk zu ich backte entwickelt, in Analogie zu den regelmäßigen Verben. Hinzu kommt die Grammatikalisierung, bei der lexikalische Wörter zu grammatischen Hilfsmitteln werden, wie das spanische haber, das vom Vollverb zum Hilfsverb für zusammengesetzte Zeiten geworden ist. Schließlich ist die Entlehnung zu nennen, bei der Ausdrucksmittel aus anderen Sprachen übernommen werden. Erkennbar ist Wandel stets in der Variation: Alte und neue Formen existieren nebeneinander, bis sich eine durchsetzt und zur Norm wird.

So zeigt sich: Sprachwandel ist Ausdruck der schöpferischen Tätigkeit des Sprechens. Vereinfachung und Verstärkung, Anpassung und Innovation greifen ineinander und halten Sprache zugleich ökonomisch und lebendig. Jede Gegenwartsform ist daher nur ein Zwischenstand in einem offenen Prozess.

Beispiele finden wir in allen Sprachen, auch im Deutschen und Spanischen. So hört man im Deutschen heute meist wegen dem Wetter, obwohl traditionelle Grammatik wegen des Wetters vorsieht – eine Veränderung, die sich von der gesprochenen Sprache aus langsam verbreitet und mittlerweile auch vom Duden akzeptiert wird. Auch Verbformen können sich angleichen: Aus ich buk wurde ich backte und passt nun in das reguläre Muster der schwachen Verben.

Die „Fehler“ von heute gehören manchmal zur Norm von morgen

„Richtig“ und „falsch“ sind keine objektiven Eigenschaften sprachlicher Formen, sondern Bewertungen, die Sprachegemeinschaften vornehmen. Diese Bewertungen entstehen aus dem Sprachgebrauch und können sich verändern: Was heute als korrekt gilt, kann morgen schon als veraltet wahrgenommen werden. Und die „Fehler“ von heute sind möglicherweise Teil der Norm von morgen.

Ähnliche Entwicklungen prägen auch das Spanische. So sind Formen wie la mano (feminin) und el día (maskulin) und wieder anders el agua (feminin) das Ergebnis historischer Prozesse, über die man heute stolpert, weil sie ungewöhnlich wirken. Im Lautsystem zeigt sich Wandel in Wortvarianten wie septiembre / setiembre oder in der Abschwächung des /s/ im Silbenauslaut (vgl. Kapitel Aussprachevariation). Und im Wortschatz hat azafata ehemals eine Frau bezeichnet, die der Königin das Gewand auf einem Tablett (azafate) reichte – heute hingegen steht es für eine Flugbegleiterin oder auch den männlichen Flugbegleiter (azafato), ein Wandel, der durch gesellschaftliche Entwicklungen geprägt wurde.

Sprachwandel zeigt sich also auf allen Ebenen – in Lautung, Formen und Wortschatz – und macht sichtbar, dass Sprache immer in Bewegung ist.

Bemerkenswerte Strukturen der Gegenwartssprache: Fragen und Antworten

Die folgenden Abschnitte greifen markante Besonderheiten des heutigen Spanischen auf. Den Anfang machen lautliche Erscheinungen, an denen sich besonders deutlich zeigen lässt, wie Wandel zu den heutigen Mustern geführt hat. Im Anschluss werden die bemerkenswerten Unregelmäßigkeiten in den Formen der Substantive und Verben betrachtet und schließlich geht es um die Innovationen der romanischen Sprachen und was man aus ihnen lernen kann. Die einzelnen Themen sind im Format „Fragen und Antworten“ aufgebaut: Jede Frage entspricht einer typischen (oder zumindest potenziellen) Beobachtung im Unterricht, die Antwort erklärt sie diachron und macht das scheinbar Willkürliche nachvollziehbar.

Lautung

Warum enthalten manche Wörter einen Diphthong (fiesta), andere nicht (festivo)?

Die Diphthongierung gehört zu den markantesten Entwicklungen im Spanischen. Sie betrifft vor allem Wörter, die im Lateinischem ein kurzes /Ĕ/ oder ein kurzes /Ŏ/ in betonter Silbe aufwiesen. Diese diphthongierten äußerst regelmäßig zu ie bzw. ue. So wurde aus lat. FĔSTA fiesta und aus FŎRAS fuera. Jedoch passierte dies nicht in unbetonten Silben und der Vokal blieb unverändert, sodass FESTĪVUM sp. festivo ergab und nicht etwa *fiestivo. Deshalb zeigen viele Wortpaare einen auffälligen Unterschied: tierra neben territorio, puerta neben portón, nuevo neben novedad.

Hier liegt übrigens auch der Grund für die verschiedenen Verbstämme vieler regelmäßiger Verben (tener → tienes/tenemos), aber dazu unten mehr.

Warum wird cansado so oft als cansao gesprochen?

Im Gegenwartsspanischen werden die Verschlusslaute /b d g/ besonders in intervokalischer Position abgeschwächt (vgl. Kapitel Aussprache). Dabei handelt es sich um bereits abgeschwächte Laute, denn im Lateinischen standen an ihrer Stelle meist die Verschlusslaute /p t k/, sodass aus lat. LUPUM beispielsweise lobo wurde.

Besonders das /d/ wird im heutigen Spanisch noch weiter geschwächt, bis hin zur Tilgung wie in mercado > mercao und immer öfter auch in den Partizipformen: llegado > llegao. Diachron betrachtet geht die Abschwächung also vom ursprünglichen /p t k/ im Lateinischen über die /b d g/ im Spanischen bis zur Elision in der gesprochenen Sprache einen Weg, der sich anhand vieler Zwischenstufen, die heute parallel existieren, nachzeichnen lässt:

  • /p/: [p] > [b] > [β] > [Ø]
  • /t/: [t] > [d] > [ð] > [Ø]
  • /k/: [k] > [g] > [ɣ] > [Ø]

Die Abschwächung kann je nach Region mehr oder weniger weit gehen und hängt gleichzeitig von der Situation ab (je informeller, desto häufiger fällt der Konsonant ganz aus). Auf die Orthographie hat das keinen Einfluss.

Warum heißt es setiembre und septiembre?

Die beiden Varianten zeigen die Tendenz des Spanischen zur offenen Silbenstruktur (CV-Silbe = Konsonant-Vokal). Silbenfinale Konsonanten werden abgebaut oder verschliffen, etwa auch in doctor > dotor. Die Schrift bewahrt meist die älteren Konsonanten, die in der Aussprache häufig verschwinden (vgl. Kapitel Orthographie).

So stehen heute beide Formen septiembre und setiembre nebeneinander – beide sind korrekt und im Wörterbuch verzeichnet.

Ein analoger Prozess zeigt sich bei Präfixen wie trans- vs. tras-. Im Spanischen dominierten Formen mit tras- (z. B. trasplantar, traspasar). In gelehrten oder international geprägten Bildungen kam trans- zurück (transparente, transfusión). Diese Variation in der Lautung verdeutlicht die Tendenz zur Vereinfachung von Konsonantenclustern.

Ein weiteres Beispiel komplexer Konsonantenfolgen ohne Aussprache ist psicólogo bzw. psíquico. Das initiale <p> wird in der Aussprache in der Regel nicht realisiert, obwohl es orthographisch steht – hier wiederum ein Erbe des griechischen Ursprungs (im Wörterbuch werden sícólogo und síquico als alternative Schreibweisen aufgeführt).

Und was ist mit dem -s im Auslaut?

Die Tendenz zur offenen Silbe betrifft auch das silben- und wortfinale /s/: In vielen Varietäten wird es im Silbenauslaut abgeschwächt oder getilgt, z.B. los amigos[loh.a.ˈmi.ɣoh] ~ [lo.a.ˈmi.ɣo] oder ¿tienes tiempo? [ˈtje.ne.ˈtjem.po]. ...Das hat wiederum Konsequenzen für die Pluralmarkerierung und die Kennzeichnung der grammatischen Person (s.u.). Die Abschwächung ist in einigen Teilen der Hispanophonie kennzeichnend, hat aber auf die Schrift keinen Einfluss. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem lautlichen Phänomen und den Regionen, in denen es besonders kennzeichnend ist, findet sich im Kapitel Aussprachevariation.

In sprachgeschichtlicher Hinsicht ist das Phänomen spannend, da sich in vielen Varietäten aktuell ein Wandel vollzieht, der woanders, z.B. im Französischen, bereits vor vielen Jahrhunderten stattgefunden hatte (vgl. fr. les femmes [le.fam]).

Warum enden fast alle Wörter auf der vorletzten oder letzten Silbe?

Im Übergang vom Latein zum Spanischen wurden viele unbetonte Vokale im Inneren getilgt. Beispiele sind OCULUS > ojo, TABULA > tabla, VETULUS > viejo, CALIDUS > caldo. Diese Synkope führte dazu, dass die meisten Wörter heute auf der vorletzten oder letzten Silbe betont werden.

Nur gelehrte Wörter – also Formen, die in späterer Zeit bewusst und relativ unverändert aus dem Latein übernommen wurden – bewahren oft eine vorvorletzte Silbe, etwa espíritu oder matemática.

Zum Vergleich: Im Italienischen ist die vorvorletzte Silbe als Akzentposition sehr häufig, weil dort deutlich weniger Synkopen stattfanden. So wurde lat. OCULUS > spanisch ojo, während it. òculo bzw. heute occhio die zusätzliche Silbe bewahrt; TABULA wurde zu sp. tabla, aber im Italienischen zu tàvola; REGULA ergab sp. regla, aber it. règola. Diese Unterschiede erklären, warum im Italienischen betonte drittletzte Silben viel häufiger sind als im Spanischen.

Warum ist das h im Spanischen stumm?

Der heutige Buchstabe <h>, den man in der geschriebenen Sprache vorfindet, hatte einst Lautwert. In vielen Fällen geht er auf ein lateinisches /f/ zurück, das im Übergang zum Spanischen zu einem schwachen Atemlaut wurde und schließlich verschwand. So wurde FACERE zu hacer, FERRUM zu hierro, FORMOSUS zu hermoso. Die Schreibung ist also ein historisches Relikt, das meist auf den einstigen Lautwert und die lateinische Herkunft verweist (vgl. Kapitel Orthographie; siehe auch RAE).

Ein Vergleich mit anderen romanischen Sprachen (z. B. fr. faire, pt. fazer, it. fare) zeigt, dass dieser Wandel spezifisch für das Spanische war.

Heute besitzt keine der romanischen Sprachen mehr ein phonologisch relevantes /h/: Das Graphem <h> bleibt überall stumm, nur seine historische Herkunft unterscheidet sich.

(Unregelmäßige) Formen

Warum sind (nicht) alle Wörter auf -a feminin und auf -o maskulin?

Im klassischen Latein war die Endung noch kein sicheres Genus-Signal. Sie markierte nur Tendenzen: Die meisten Wörter der a-Deklination waren feminin, die meisten der o-Deklination maskulin. Doch schon dort gab es Abweichungen wie AGRICOLA m., POĒTA m. oder DĪĒS m. Diese schwache Kopplung von Form und Genus wurde im Vulgärlatein zu einer festen Erwartung: -a = feminin, -o = maskulin. Damit wuchs der Druck auf alle Wörter, die nicht ins Schema passten.

So kam es zu verschiedenen Entwicklungen. Manche Wörter wurden reanalysiert, ohne dass ihre Form sich änderte. Wörter des Neutrum Singular auf -um wurden als maskuline Substantive auf -o interpretiert (VINUM > el vino). Neutrum Plural Wörter auf -a wurden als feminines Singular interpretiert (FOLIA > la hoja, GAUDIA > it. la gioia / fr. joie). Ganze Gruppen wie die Baumnamen kippten ins Maskulinum (PINUS f. > el pino, fr. le pin, it. il pino). Das Neutrum verschwand fast vollständig, nur Spuren wie die spanischen Demonstrativa esto, eso, aquello erinnern noch daran.

Reanalyse und Analogie: Was ist der Unterschied?

Unter Reanalyse versteht man, dass eine Form unverändert bleibt, aber in ihrer Struktur neu gedeutet wird. Ein anschauliches Beispiel sind die lateinischen Wörter vēlum ‘Segel, Tuch’ und vēla ‘Segel (Plural)’. Während im klassischen Latein vēla eindeutig Plural war, wurde diese Form im Vulgärlatein als feminines Singular verstanden. So entstehen im Spanischen la vela ‘Segel’ und daneben el velo ‘Schleier, Tuch’. Die Lautgestalt bleibt dieselbe, doch Genus und Numerus verschieben sich.

Analogie dagegen bedeutet, dass eine Form sichtbar angepasst wird, um sich einem häufigeren Muster anzugleichen. Prominent ist im Spanischen die Bildung der 1. Person Singular mit -go: vengo, tengo, pongo, salgo, valgo, oigo, traigo. Hier wird ein /g/ eingefügt, auch wenn es etymologisch nicht vorhanden war, nur weil andere hochfrequente Verben wie tengo und vengo dieses Muster vorgaben. Ebenso erhielten Verben wie estoy, soy, voy, doy ein -y, obwohl die älteren Formen estó, só, vó, dó lautgeschichtlich anders verlaufen waren. Auch bei Substantiven wirkt Analogie: nurus ‘Schwiegertochter’ und socrus ‘Schwiegermutter’ wurden ins Schema der -a-Feminina eingepasst und zu nuera und suegra. Im Verbalbereich glättet Analogie Stammspaltungen, die durch Lautwandel entstanden sind: Aus dem alten entriegas wurde entregas, aus confuertas wurde confortas, aus dem Nebeneinander lievo/levamos wurde das heutige einheitliche llevo/llevamos.

Der Unterschied lässt sich knapp fassen: Reanalyse verändert die Deutung bei gleichbleibender Form, Analogie verändert die Form, damit sie zum erwarteten Muster passt. Ein Vergleich aus dem Deutschen macht das deutlich: der einzigste ist eine analogische Neubildung, die nach dem vertrauten Muster Superlativ = -st(e) gebildet wurde, obwohl einzig eigentlich keinen Steigerungsgrad zulässt.

Andere Wörter wurden analogisch angepasst, also umgeformt, damit sie sich ins Schema fügten. Seltene Deklinationen wie die u-Klasse wanderten in die o-Klasse; auch Adjektive wurden stärker an das dreigliedrige Muster -us/-a/-um angeglichen. Personenbezeichnungen wie NURUS ‘Schwiegertochter’ und SOCRUS ‘Schwiegermutter’ wurden analogisch zu nuera und suegra.

Doch hochfrequente Wörter konnten sich auch als „Ausnahmen“ halten. Am bekanntesten ist la mano aus MANUS f., das trotz seiner Endung auf -o feminin blieb. Auch bei abstrakten oder variablen Genera setzte sich kein einheitlicher Weg durch: FINIS m./f. wurde zu el fin im Spanischen, aber zu la fin im Französischen.

So erklärt sich, warum die Regel -a = feminin, -o = maskulin zwar zu den sichtbarsten Mustern des Spanischen gehört, aber dennoch kein Naturgesetz ist, sondern das Ergebnis einer historischen Vereinfachung mit Reanalyse, Analogie und Überbleibseln.

Warum heißt es el agua? Hier findest Du die richtige Erklärung!

Ein großes, immer wieder weitergegebenes Missverständnis ist die falsche Erklärung, dass bei Wörtern, die mit betontem a- beginnen, der maskuline Artikel el verwendet wird. Natürlich verwendet man el, aber es handelt sich nicht um den maskulinen Artikel. Es ist vielmehr so, dass der feminine Artikel im Singular zwei Formen hat: la und auch el. Der maskuline Artikel Singular hat demgegenüber nur die Form el.

Irritiert? Nur die diachrone Betrachtung gibt hier Aufschluss: Das Lateinische kannte keine Artikel und daher sind sie neu entstanden. Ursprung sind lateinische Demonstrativa, im Spanischen vor allem ILLE ‘jener da’ und ILLA ‘jene da’. In der frühen Entwicklung wurde aus ILLA zunächst ela. Dieses ela reduzierte sich in Abhängigkeit vom Lautkontext: vor Konsonant zu la, vor vokalischem Anlaut (v.a. vor /a/) zu el.

So erklärt sich, dass man vor femininen Substantiven wie agua im Singular el agua sagt. Dass sowohl Artikel als auch Nomen feminin sind, erkennt man am Plural (las aguas) oder wenn man ein Adjektiv hinzustellt wie el agua fría.

Weshalb bildet man den Plural im Spanischen mit -s, und was hat das mit Kasus zu tun?

Im heutigen Spanisch gilt eine einfache Regel: Der Singular kommt ohne jede Markierung aus (strukturalistisch wird das als Nullmorphem bezeichnet); dagegen markiert die Endung -s (bzw. -es nach Konsonant) den Plural. Daher cabra/cabras, madre/madres, virtud/virtudes und muro/muros. Ein einzelnes Pluralmorphem -s markiert also zuverlässig die Mehrzahl. Das war im Lateinischen anders: Dort gab es keinen einheitlichen Pluralmarker, sondern je nach Deklination unterschiedliche Pluralformen, etwa -ŌS/-ĀS/-ĒS im Akkusativ der o-, a- und konsonantischen Klasse.

Warum erbt Spanisch dann gerade dieses -s? Im alltäglichen Sprachgebrauch standen Substantive besonders häufig nicht als Subjekt, sondern in Ergänzungsfunktionen. In der Entwicklung zum Vulgärlatein verschob sich die Formenbasis deshalb hin zu den Akkusativformen. Parallel setzte ein Strukturwandel ein: Genitiv- und Dativfunktionen wurden zunehmend über Präpositionen ausgedrückt (DE + NOMEN, AD/A + NOMEN), genau wie es die romanischen Sprachen heute tun (de l’homme / del hombre / dell’uomo; à l’ami / al amigo / all’amico). So wurde der Akkusativ zur Standardform, auch nach Präpositionen, und die romanischen Grundformen entstanden aus genau diesen Akkusativen. Beispiele, die den Übergang zeigen: HOMINEM > hombre, fr. homme; AMICAM > amiga.

Die Lautgeschichte liefert den zweiten Baustein: Auslautendes -M fiel im Singular weg, sodass -UM/-AM/-EM zu -O/-A/-E bzw. Null wurden (VINUM > vino, AMICAM > amiga, HOMINEM > hombre). Im Plural blieb jedoch das Akkusativ-s erhalten (-ŌS/-ĀS/-ĒS > -os/-as/-es), daher lobos, cabras, virtudes. Das Ergebnis ist die spanische „Einfachregel“: Singular ohne Zusatz, Plural auf -s. Anders als im Lateinischen trägt hier ein einziges sichtbares Morphem die Numerusmarkierung.

Mit dem Abbau der Kasusendungen wandelte sich die Grammatik weiter: Präpositionen übernahmen systematisch die Funktionsanzeige, und die Wortstellung wurde fester relativ zur Verbposition. Diese Entwicklung setzt schon im späten Latein ein, wo Richtungsbedeutungen nicht mehr nackte Formen wie ROMAM ‘nach Rom’ bevorzugen, sondern zunehmend Präpositionen nutzen (AD/IN + ROMA(M)). Der heute obligatorische Einsatz von a/de-Gruppen und die stabilere Grundordnung in den romanischen Sprachen sind direkte Folgen dieses Umstiegs von Endungen auf Präpositionen.

Warum heißt es tienes, aber tenéis? Und woher kommt das g in tengo oder digo und das y in estoy und doy?

Spanischlernende stolpern früh über „Unregelmäßigkeiten“ wie diese. Der Blick zurück zeigt: Das Lateinische war an vielen Stellen regelmäßiger. Aber der Lautwandel seither hat im Spanischen zu Formunterschieden geführt, die ein uneinheitliches Konjugationsschema zur Folge haben. Hier werden die häufigsten Fälle betrachtet, mit denen sich schon 90 % aller Stolpersteine beim Erlernen der Verbformen verstehen lassen (eine Herausforderung für die Lernenden bleiben sie natürlich trotzdem).

Erstes Schema: die Vokalalternanz in sonst regelmäßigen Verben. Vergleicht man die Formen von negar oder mover, fällt auf, dass in der 1., 2., 3. Person Sg. und der 3. Person Pl. ein Diphthong im Stamm vorkommt, in der 1. und 2. Person Plural aber nicht: niego, niegas, niega und niegan stehen negamos und negáis gegenüber; muevo, mueves, mueve und mueven stehen im Kontrast zu movemos und movéis. Warum ist das so? Das Lateinische kannte nur einen einzigen Stamm, aber die Betonung lag wie im Spanischen mal auf dem Stammvokal, mal auf dem folgenden. Was passierte, war absolut regelmäßig im Zusammenhang des Lautwandels: Im Präsens diphthongierten betonte Stammvokale Ĕ/Ŏ zu [je]/[we] (geschrieben ie und ue), unbetonte blieben [e] und [o]. Wer das Muster aber einmal durchschaut hat, der sieht wiederum, wie regelmäßig das gleiche Muster in vielen Verben auftritt.

Wenn man Spanisch lernt, heißt es oft, dass man in der 1. Person Singular einfach ein -o an den Stamm anhängt: hablo, como, vivo. Doch gleich darauf stößt man auf Formen, die sich nicht an diese Regel halten: digo, vengo, salgo mit einem zusätzlichen -g-, oder estoy, voy, doy mit -oy am Ende. Warum gibt es solche Abweichungen?

Schaut man in die Geschichte zurück, sind sie erklärbar. Das Lateinische hatte regelmäßigere Stämme: DĪCO ‘ich sage’, FACIŌ ‘ich mache’, und in allen übrigen Personen stand dort ebenso ein C, das immer [k] ausgesprochen wurde, also DĪCIS, DĪCIT, DĪCIMUS, DĪCITIS, DĪCUNT sowie FACIS, FACIT, FACIMUS, FACITIS, FACIUNT. Im Übergang zum Spanischen wurde der Laut /k/ zwischen Vokalen regelmäßig stimmhaft zu /g/, hier allerdings nur in der 1. Person, wo ein /o/ folgt. Wenn nämlich ein /e/ oder /i/ folgte, palatalisierte der Konsonant und wurde später zu /θ/ bzw. /s/ im Spanischen (vgl. dices, hace). Von diesen wenigen (aber dafür hochfrequenten) Verben aus verbreitete sich das Muster mit -go auf andere Verben – per analogischer Anpassung auch dort, wo ursprünglich gar kein /k/ stand: so entstanden tengo, vengo, pongo, salgo, valgo, oigo, traigo.

Ein zweiter Sonderfall ist das -y. Bei estoy steckt es wohl in einer Verbindung mit dem alten IBI ‘dort’, wie auch in hay (< HABET IBI ‘es gibt dort’). Diese mit der Idee des räumlichen ‘dort’ verknüpfte Form wirkte so prägend, dass sie auf weitere Hochfrequenzverben übertragen wurde: soy, voy, doy. Auch hier bleibt die Besonderheit streng auf die 1. Person begrenzt.

Die heute oft gefürchteten „Unregelmäßigkeiten“ der Verben sind also das Ergebnis eines doppelten Prozesses: regelmäßiger Lautwandel erzeugte neue Formen, und Analogie verbreitete oder glich diese Formen aus. Wer das weiß, erkennt in digo/dices, tengo/tenemos, estoy/estás keine chaotischen Sonderfälle, sondern Folgen eines regelmäßigen Lautwandels und interessanter Anpassungsprozesse.

Warum enden fast alle neuen spanischen Verben auf -ar?

Schaut man ins heutige Spanisch, fällt auf: Die überwältigende Mehrheit der Verben gehört zur -ar-Klasse. Etwa neun von zehn Verben enden so, während -er und -ir zusammengenommen kaum zehn Prozent stellen. Wer ein neues Verb bildet – sei es durch Ableitung oder Entlehnung – greift fast automatisch zu -ar. Darum heißt es tuitear, chequear, escanear, aber nie tuiteir oder escaner. Auch bei heimischen Bildungen sieht man das: fotocopiar, filmar, solucionar, peticionar – alle passen in das -ar-Schema, obwohl es ältere Synonyme auf -er/-ir gibt wie resolver statt solucionar oder pedir neben peticionar.

Warum diese Dominanz? Historisch war das Lateinische vielfältiger. Es kannte fünf Konjugationen, die sich im Vulgärlatein zu drei reduzierten. So entstanden die drei spanischen Hauptklassen -ar, -er, -ir. Aus den lateinischen -ĒRE/-ĔRE-Verben stammen spanische Vertreter wie tener, deber, vender; aus -ĪRE kamen Verben wie venir, vivir. Doch produktiv wurde vor allem die auf -ar zurückgehende Klasse, weil ihr Paradigma regelmäßig, durchsichtig und leicht erweiterbar war.

Die hochfrequenten Grundverben entziehen sich oft diesem Schema und bewahren ältere Muster: ir → voy, ser/estar, dar/haber. Sie sind nicht Zeichen von Chaos, sondern konservierte Reste einer älteren Vielfalt, die dank Gebrauchshäufigkeit erhalten blieben. „Unregelmäßigkeit“ bedeutet hier nichts anderes als „bewahrte Geschichte“.

So ergibt sich ein doppeltes Bild: Auf der einen Seite die klar dominierende -ar-Klasse, die das natürliche Aufnahmemuster für Neologismen und Entlehnungen bildet. Auf der anderen Seite ein kleiner, aber wichtiger Bestand an -er/-ir-Verben, die das historische Erbe sichtbar machen.

Wie entsteht eigentlich Grammatik – und was ist neu im Spanischen?

Grammatik entsteht im Gebrauch: Freie Wortkombinationen werden durch vielfache Wiederholung zu festen Mustern und übernehmen so dann irgendwann grammatische Funktionen. Dabei verblasst meist die ursprüngliche lexikalische Bedeutung, die Formen werden immer weniger variabel und verlieren oft ‚Material‘ – das ist ‚Grammatikalisierung‘.

In der Betrachtung der romanischen Sprachen wird oft betont, was ‚fehlt‘ im Vergleich zum lateinischen Ursprung. Berühmt ist das Kasussystem, das es nicht mehr gibt. Noch spannender ist dagegen, was in den romanischen Sprachen alles neu entstanden ist. In diesem Abschnitt geht es um drei solcher Innovationen am Spanischen: ein Vergangenheitstempus (he cantado), das in Konkurrenz zum alten Perfekt (canté) steht; gleich zwei neue – ebenfalls konkurrierende – Futurtempora (voy a cantar vs. cantaré) und schließlich Adverbien auf -mente, deren Entstehung erklärt, warum es immer mit der femininen Adjektivform gebildet wird.

Warum gibt es zwei konkurrierende Vergangenheitsformen – und woher stammt das Perfekt?

Das spanische Perfekt (he escrito) geht auf HABERE + Partizip zurück. Ausgangspunkt ist Besitz: MAGISTER HABET SCRIPTUM LIBRUM ‘der Lehrer hat ein Buch, das geschrieben ist’. Schrittweise rückt das Resultat in den Fokus (‘abgeschlossen’), die Konstruktion wird zeitlich gelesen, haber verliert die Besitzbedeutung und wird Hilfsverb; das Partizip wird unveränderlich: He escrito tres cartas (*He escritas tres cartas ist heute ausgeschlossen).

In der Romania stand bei vielen Intransitiven zunächst ‘sein’ als Hilfsverb (je suis venu, dt. ich bin gekommen). Spanisch generalisierte ab dem 15. Jh. haber auch hier: he venido. Das vereinfacht die Hilfsverbregel im Spanischen gegenüber dem Deutschen und Französischen.

Die ‚Konkurrenzform‘ ist das Indefinido (canté). Es setzt das lateinische Perfekt als Präteritum fort (CANTĀVĪ); während es im Französischen im Alltag weitgehend dem passé composé wich, blieb es im Spanischen nicht nur erhalten, sondern ist in manchen Regionen Spaniens und großen Teilen Hispanoamerikas heute sogar die vorherrschende Form. Kennen sollte man in jedem Fall beide Formen.

Warum gibt es im Spanischen zwei Futurformen?

Im Spanischen verwendet man – wie in vielen anderen Sprachen auch – zwei verschiedene Futurformen. Der Grund dafür ist, dass gerade im Sprechen über Zukünftiges immer wieder neue Formen gebildet und ältere aufgegeben werden. Das Futur des Lateinischen hat es zum Beispiel nicht bis heute geschafft, es wurde durch innovativere Formen ersetzt. So setzte sich in der Entwicklung der romanischen Sprachen ‘haben + Infinitiv’ durch (CANTARE HABEO ‘ich habe zu singen’) gegenüber dem alten lateinischen Futur (CANTABO). Die Idee des Müssens (deontische Modalität) war die ursprüngliche Idee dieser Konstruktion, aber auch hier wurde die Bedeutung so abstrakt, dass nur noch die Idee der Zukunft blieb. Gleichzeitig wurde das Hilfsverb langsam zur Endung: aus cantar + he wurde cantaré (vgl. dieselbe Entwicklung in den Nachbarsprachen: fr. chanter + ai > chanterai, it. cantare ho > cantarò).

Später entstand zusätzlich ein Bewegungsfutur aus ‘gehen + Infinitiv’ (z. B. voy a cantar). Entscheidend ist hier die Entwicklung von der Idee des ‘sich in Bewegung setzen, um X zu tun’, zu ‘beabsichtigen, X zu tun’, und schließlich schlicht zu ‘zukünftig X tun’. In diesem Verlauf verlor ir seine volle Bewegungsbedeutung, die Fügung wurde fest und dient heute als Zukunftsmarker. Dieses periphrastische Futur ersetzt heute immer öfter das ältere einfache Futur (mañana cantaré).

Bewegung in die Zukunft – nicht nur im Spanischen

Das ‚Bewegungsfutur‘ ist kein spanisches Einzelphänomen. Auch im Französischen heißt es je vais chanter und im Englischen sagt man I’m going to sing. Dort geht die Entwicklung sogar weiter: aus going to wird in der Umgangssprache gonna, denn je abstrakter die Bedeutung, desto mehr verschleift oft auch die Form. Der Weg ist in allen Fällen derselbe: ‘gehen, um etwas zu tun’ > ‘Absicht haben’ > ‘zukünftig tun’.

Dass Bewegung so leicht Zukunft ausdrückt, hat einen universalen Hintergrund: Zeit wird in vielen Sprachen räumlich gedacht. Man spricht von Tagen, die ‚vor uns‘ oder ‚hinter uns‘ liegen. Bewegung ist damit eine der wichtigsten Quellen, um Zeit sprachlich zu fassen.

Woher kommt -mente und warum heißt es claramente und nicht claromente?

Die Adverbien auf -mente gehen auf eine alte Fügung aus dem Lateinischen zurück: MENS, MENTIS ‘Geist, Sinn, Weise’ wurde mit einem Adjektiv kombiniert. So ergab sich etwa MENTE CLARA oder CLARA MENTE ‘mit klarem Sinn / auf klare Weise’. Da MENS, MENTIS ein feminines Substantiv war, musste natürlich auch das Adjektiv im Femininum stehen (CLARA, nicht CLARUS).

Mit der Zeit verschmolz diese Fügung zu einem festen Ausdruck, bei dem das Substantiv seine Eigenständigkeit verlor und nur noch als Endstück wahrgenommen wurde. Aus CLARA MENTE wurde claramente. Auf diese Weise entstand das produktive Adverb-Suffix -mente.

Später dehnte sich die Verwendung über den ursprünglichen Bedeutungsbereich ‘Geist, Weise’ hinaus auf Eigenschaften aus, die gar nicht unmittelbar dazu passten. So blieb von der konkreten Bedeutung nur noch das allgemeine ‘(Art und) Weise’ und die Form wurde zur reinen grammatischen Kennzeichnung für Adverbien.

Das Muster findet sich ebenfalls in den übrigen romanischen Sprachen: fr. clairement, it. chiaramente, pt. claramente. Der Ursprung der Adverb-Endung im lateinischen Substantiv erklärt, warum es nicht zufällig immer die feminine Form des Adjektivs ist – und man sieht besonders eindrücklich, wie Grammatik entstehen kann.


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Wer sich für umfassendere Sprachgeschichten interessiert, findet sowohl Überblicksdarstellungen zur Romania als auch speziell zum Spanischen. Kaiser (2014) legt die romanische Sprachgeschichte breit an, von den lateinischen Grundlagen bis zu den modernen Varietäten. Für den Übergang vom Latein bieten sich Lehrwerke wie Müller-Lancé (2006) an, die die Strukturen des Ausgangssystems für Romanisten verständlich machen. Für das Spanische selbst liegt mit Pountain (2001) eine Textgeschichte vor, die Wandelprozesse anhand von Originalquellen illustriert. Ergänzend erschließt Ranson/Lubbers (2018) die Entwicklung des Spanischen in einem didaktisch aufbereiteten Format, das auch ohne Vorkenntnisse gut zugänglich ist und demselben Ansatz folgt wie dieses Kapitel (s.u.). Wer ein noch tieferes Verständnis anstrebt, dem sei Coserius grundlegende Abhandlung über Synchronie, Diachronie und Geschichte (1974) empfohlen, da sie das Problem des Sprachwandels in die allgemeine Sprachwissenschaft einordnet.

Von besonderem Interesse ist ein Ansatz, der diachrone Erklärungen konsequent von der Gegenwart her entfaltet. Tacke (2021) zeigt, wie die historische Betrachtung romanischer Sprachen im Unterricht nicht bei Altstufen ansetzt, sondern an heutigen Strukturen und „Anomalien“ anschließt, um deren Gewordensein sichtbar zu machen. Vorläufer dieses Modells finden sich bei Christmann (1975) und Böckle/Lebsanft (1989). Für das Spanische ist Ranson/Lubbers (2018) das einschlägige Beispiel: Fragen wie el arte ~ las artes oder die Verteilung unregelmäßiger Verbformen werden ausgehend vom modernen Sprachgefühl aufgegriffen und erst dann in ihrem historischen Zusammenhang erklärt. Damit verschränkt sich Gegenwartsorientierung mit diachroner Perspektive.


Literatur

  • Coseriu, Eugenio (1974): Synchronie, Diachronie und Geschichte. Das Problem des Sprachwandels. München: Fink.
  • Kaiser, Georg A. (2014): Romanische Sprachgeschichte. Paderborn: Fink.
  • Müller-Lancé, Johannes (2006): Latein für Romanisten. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Tübingen: Narr Francke.
  • Penny, Ralph (²2002): A History of the Spanish Language. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Pountain, Christopher J. (2001): A History of the Spanish Language Through Texts. London/New York: Routledge.
  • Ranson, Diana L. / Lubbers Quesada, Margaret (2018): The History of Spanish. A Student’s Introduction. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Tacke, Felix (2021): „Die historische Betrachtung der romanischen Sprachen. Zur Zukunft der Sprachgeschichte in der universitären Lehre“. Romanische Forschungen 133, 68–89.

Dieses Kapitel zitieren

Lea-Marie Domin, Selin Sevgi, Felix Tacke (2025): „Sprachwandel“. In: Tacke, Felix (Koord.): Spanische Linguistik @ School. Marburg: Universität Marburg. Online: https://linguistik.online.uni-marburg.de/ DOI: 10.5281/zenodo.15348687

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  1. Autor:innen: Lea-Marie Domin, Selin Sevgi, Felix Tacke
    Beiträge & Peer Review: Marlon Merte, Gloria Gabriel

    Letzte Änderung: 23.09.2025