2.2 Aussprachevariation1¶
Welche Aussprache(n) im Unterricht?¶
Wenn man als Lehrkraft mit verschiedenen Varietäten des Spanischen zu tun hat, steht man schnell vor der Frage: Muss ich mich eigentlich für eine bestimmte Varietät entscheiden? Und wenn ja – für welche?
Keine Panik. Die gute Nachricht ist: Man muss nicht das gesamte Variationssprektrum des Spanischen im Detail kennen. Aber man sollte wissen, dass es Unterschiede gibt – insbesondere in der Aussprache, denn diese ist für Fremdsprachenlernende besonders leicht wahrnehmbar. Und noch wichtiger: Man sollte eine Haltung entwickeln, wie man im Unterricht mit diesen Unterschieden umgeht.
Anders als beim Wortschatz oder der Grammatik sind Unterschiede in der Aussprache auch für Lernende ohne fortgeschrittene Sprachkenntnisse leicht erkennbar. Das Spanische weist natürlich nicht weniger (regionale) Unterschiede auf als das Deutsche oder andere Sprachen, wenn es um die Aussprache (oder ‚Akzente‘) geht. Die eine ‚spanische‘ Aussprache gibt es also nicht – und auch nicht die eine ‚richtige‘ Aussprache (oder gar eine einzige ‚Hochsprache‘).
Auch wenn sich der Spanischunterricht traditionell am Spanischen Spaniens orientiert hat und das ‚peninsulare‘ Spanisch meist die Grundlage der Schulbücher bildet, wird diese Festlegung seit einigen Jahren – völlig zurecht! – hinterfragt. Aus linguistischer Sicht gibt es keinen Grund, nur das peninsulare Spanisch zu unterrichten. Im Gegenteil: Unter dem Begriff der Plurizentrik hat sich sowohl in der Linguistik als auch in der durch die Real Academia Española stark mitgeprägten spanischen Sprachkultur längst die Erkenntnis durchgesetzt, dass es mehr als ein ‚gutes Spanisch‘ gibt. Das in amerikanischen Ländern gesprochene Spanisch ist nicht weniger Wert und nicht schlechter als das Spaniens und die Merkmale amerikanischer Varietäten sind auch nicht als ‚Abweichungen‘ abzutun. Ausführlicher wird das natürlich im Kapitel Variation und Plurizentrik betrachtet. Hier ist nur wichtig: Diese Erkenntnis gilt selbstverständlich auch für die Aussprache und Aussprachevariation.
Die linguistische Beschreibung und Bewertung sprachlicher Phänomene ist das eine, der schulische Umgang mit ihnen etwas ganz anderes. Allein für die Aussprache ergeben sich viele ganz praktische Fragen für Lehrende und Lernende:
- Welche Aussprache habe ich als Lehrkraft? (hoffentlich keine ‚deutsche‘!)
- Welche Aussprache unterrichte ich?
- Welche Aussprache wollen meine Schüler:innen erlernen?
Habe ich Erstsprachler:innen im Unterricht oder Schüler:innen, die schon (länger) in einem spanischsprachigen Land waren oder besondere Bezüge zum Spanischen eines bestimmten Landes, dann können sich weitere Fragen daraus ergeben:
- Wie gehe ich mit dem Wunsch um, bestimmte Aussprachevarianten verwenden zu wollen, andere nicht?
- Wie gehe ich mit Unterschieden in der Aussprache der Schüler:innen (im Vergleich mit der unterrichteten Aussprache) um?
- Wie reagiere ich auf Fragen zur Aussprachevariation?
Da man nicht die Aussprache mehrerer Länder und nicht jede Aussprachevariante unterrichten kann, ist ein kluger Umgang mit solchen Fragen umso entscheidender. Die (zeitlichen) Begrenzungen des Schulunterrichts machen Vereinfachungen nötig und praktische Erwägungen stehen notwendigerweise im Vordergrund. Im Folgenden werden daher nur die wichtigsten Variationsphänomene betrachtet, weiter unten finden sich aber wie immer Verweise auf tiefergehende Lektüren und Recherchemöglichkeiten.
Die wichtigsten Variationsphänomene¶
In diesem Abschnitt soll ein Überblick über die wichtigsten regionalen und nationalen Aussprachevarianten gegeben werden, die man als Lehrkraft kennen sollte. Außerdem finden sich hier Hinweise, wie man mit diesen Varianten im Unterricht umgeht oder wie man sie zum Thema macht, wenn es darum geht, Bewusstsein für die Ausspracheunterschiede zu schaffen. Das Kapitel kann nicht jede Frage beantworten, bietet aber einen linguistischen Zugang zur Aussprachevariation, der es Dir ermöglichen soll, kompetent mit diesen Fragen umzugehen und souverän auf Fragen zu diesen Themen einzugehen. Aus der linguistischen Perspektive ergibt sich übrigens ganz selbstverständlich eine offene und tolerante Haltung gegenüber Variation.
Da die Vokale in der spanischsprachigen Welt vergleichsweise wenig Variation aufweisen, stehen auch hier wieder die Konsonanten im Vordergrund.
Distinción vs. Seseo, oder: „Muss man lispeln wie die Spanier:innen?“¶
Wer Spanisch in der Schule gelernt hat, spricht caza und casa vermutlich unterschiedlich aus. In den meisten deutschen Schulbüchern wird die Unterscheidung zwischen <s>
wiedergegeben, wird hingegen entweder durch <z>
repräsentiert (vor allem, wenn <a o u>
folgen, wie in zapato, zorro oder azul) oder durch <c>
in den Sequenzen <ce>
und <ci>
(wie in cena oder cine).
Was aber oft nicht deutlich (genug) wird: Die distinción (siehe Aussprache) und damit die Verwendung des Interdentallautes ist eigentlich nur eine regionale Besonderheit – typisch für weite Teile Spaniens, aber nicht für die große Mehrheit der spanischsprachigen Gemeinschaften. In fast ganz Hispanoamerika – und auch auf den Kanarischen Inseln oder in Teilen Andalusiens – beinhaltet das phonologische System nur den Laut /s/, was man als seseo bezeichnet (vgl. DPD, s.v. seseo). Und da der Interdentallaut dort nicht vorkommt, kann die Aussprache von caza als oder von cena als natürlich weder als ‚falsch‘ noch als ‚dialektal‘ bezeichnet werden. Der seseo ist also für den Großteil der spanischsprachigen Welt die ‚richtige‘ und ‚gute‘ Aussprache.
Was bedeutet das nun für den Unterricht? Soll man beides unterrichten? Kann man sich auch entscheiden, anders als im Schulbuch den seseo als Grundlage zu unterrichten?
Als Lehrkraft trifft man zwangsläufig eine Entscheidung – aber sie sollte bewusst getroffen und kommuniziert werden. Das heißt:
-
Wenn ich mich für die distinción entscheide, sollte ich meinen Schüler:innen transparent machen, dass es sich dabei um eine von zwei Möglichkeiten handelt, nämlich die Standardaussprache Spaniens, nicht aber um die einzig ‚richtige‘ Aussprache.
-
Wenn ich mich entscheide, den seseo zu unterrichten, dann sollte ich auch erläutern, dass es in der Aussprache Spaniens einen weiteren Laut gibt (und mit welchen Graphien er verknüpft ist).
In jedem Fall sollte ich, wenn ich – vor allem fortgeschrittenen Lernende – für diese Unterschiede sensibilisiere, dabei klarstellen, dass der seseo – genauso korrekt ist wie die Unterscheidung von
und . Anschauliche Audiobeispiele wie die folgenden sind dafür hilfreich. Ein Hinweis ist auch wert, dass man mit der Aussprache von zapato als außerhalb Spaniens sogar auffallen kann, denn Spanier:innen werden nicht zuletzt durch den Interdentallaut sofort erkannt.Hör mal (seseo vs. distinción)
Die folgenden Ausschnitte aus Radiosendungen veranschaulichen einerseits den seseo in Hispanoamerika und andererseits die Verwendung des Interdentallautes
in Spanien. Beachte, dass hier Radiomoderator:innen sprechen, es handelt sich also um eine Aussprache, die der ‚guten Aussprache‘ des jeweiligen Landes (oder der Region) entspricht:Mexiko:
„(...) esta mujer que se hizo famosa en 2017 gracias a un video que se hizo viral.“ (MEXc5bc0)Costa Rica:
„Gana una cena para cuatro personas (...)“ (CRce1ef)Chile:
„Se ve espectacular y está más cerca.“ (CHI052bc)Argentinien:
„(...) cerca de Miami.“ (ARG-Cba2154c)Spanien, Bsp. 1:
„(...) los que conectan la propia capital con Galicia, Barcelona o Zaragoza y el resto del corredor del Levante.“ (ES-MADaa126)Spanien, Bsp. 2:
„El plazo para hacerlo acaba el trece de septiembre.“ (ES-MAD759f8)Es gibt verschiedene Pro und Contra für beide Möglichkeiten, die man bedenken sollte:
-
Für den seseo spricht, dass er in der Mehrheit der spanischsprachigen Welt die Norm ist. Wird seseo unterrichtet, entfällt die Vermittlung des Interdentallauts
, der im Deutschen nicht existiert und den viele Lernende ungewohnt oder schwer aussprechbar finden. Für viele Schüler:innen wirkt dieser Laut außerdem zunächst fremd oder sogar stigmatisierend, da das sogenannte ‚Lispeln‘ im Deutschen als Aussprachefehler gilt. Viele finden ihn daher ‚uncool‘ und vermeiden ihn bewusst. Hier kann man als Lehrkraft aufklären. -
Für die distinción spricht wiederum, dass sie in vielen Lehrwerken als Standard vorausgesetzt wird – ebenso in Prüfungsformaten, Hörtexten oder im schulischen Kanon insgesamt. Außerdem wird die Unterscheidung auch in der Orthographie gemacht. Solch praktische Erwägungen und die Nähe zu Spanien lassen sich nicht leugnen. Außerdem kann die bewusste Auseinandersetzung mit dem Interdentallaut
sprachsensibilisierend wirken: Gerade der Vergleich mit dem Englischen, wo sich derselbe Laut hinter dem graphischen<th>
(z.B. think, author, path) verbirgt, zeigt, dass der Interdental bereits aus einer anderen Fremdsprache bekannt ist (und dort nicht als ‚uncool‘ gilt). Solche sprachenübergreifenden Parallelen sind übrigens immer hilfreich, um stereotype Vorstellungen zu hinterfragen.
Seseantes im Unterricht?
Viele Lehrkräfte und Schüler:innen sprechen bereits Spanisch (als Erstsprache) und bringen eigene sprachliche Prägungen mit – zum Beispiel durch Herkunft oder familiäre, kulturelle oder emotionale Bezüge zu Lateinamerika.
In solchen Fällen ist der seseo nicht nur eine legitime, sondern oft auch die authentische Variante. Er kann für Lernende wie Lehrkräfte ein Identifikationsangebot darstellen und die Motivation stärken.
Wer die distinción unterrichtet und Schüler:innen in der Lerngruppe hat, die mit seseo aufgewachsen sind, sollte diese Aussprache nicht als Fehler behandeln. Vielmehr bietet sich (spätestens) hier eine gute Gelegenheit, das Thema anzusprechen.
In jedem Fall sollten Schüler:innen mit seseo-Hintergrund ihre Aussprache als wertgeschätzt und anerkannt erleben.
Letztlich gilt: Beide Varianten sind korrekt. Entscheidend ist, dass der Unterricht nicht suggeriert, nur eine sei ‚die richtige‘. Aus linguistischer Perspektive sollte es neben der Vermittlung der Sprachkompetenz auch Ziel sein, die Lernenden zu befähigen, Unterschiede wahrzunehmen, zu verstehen und selbstbestimmt mit ihnen umzugehen, also Sprachbewusstheit zu fördern.
Yeísmo¶
Wer pollo und poyo gleich ausspricht, macht es heute wie die Mehrheit. Wie schon im Kapitel Aussprache angesprochen, wird die Unterscheidung zwischen <ll>
und <y>
, also zwischen und , in den meisten Regionen und von den meisten Sprecher:innen längst nicht mehr gemacht. Beide Laute werden in der Regel als ausgesprochen (vgl. DPD, s.v. yeísmo). Dieses Phänomen nennt man yeísmo – und es ist heute die Norm, nicht die Ausnahme.
Je nach Region klingt der yeísmo unterschiedlich: In Mexiko oder Kolumbien hört man meist
, in der Karibik oder in Zentralamerika dagegen oft nur ein sanftes . Im Río de la Plata-Raum, vor allem in Buenos Aires und Montevideo, ist die Aussprache besonders markant, da dort (bezeichnet als žeísmo) und mittlerweile noch häufiger stimmlos (bzeichnet als šeísmo) ausgesprochen wird (z.B. llamar als oder ).Hör mal (yeísmo, žeísmo und šeísmo)
Die folgenden Ausschnitte aus Radiosendungen veranschaulichen, dass der yeísmo, d.h. die Realisierung des Phonems
als (und manchmal schwächer als ) für und , heute überall normal ist. Die Beispiele aus Argentinien veranschaulichen darüber hinaus žeísmo und šeísmo. Beachte, dass hier Radiomoderator:innen sprechen, es handelt sich also um eine Aussprache, die der ‚guten Aussprache‘ des jeweiligen Landes (oder der Region) entspricht:Spanien:
„Se llamaba Raquel, tenía 54 años y su cuerpo ha aparecido en un domicilio de Villalbilla.“ (ES-MAD7d2fe)Nicaragua:
„(...) estamos experimentando este tipo de lluvias en distintas partes del país (...)“ (NICa941c)Chile:
„Todos los detalles los conocemos con Daniela Forero Ortiz.“ (CHIf24b4)Peru:
„En RPP nos sentimos orgullosos de nuestros líderes (...).“ (PER44938)Argentinien, Bsp. 1:
„El sábado 22 de abril, llegó la policía.“ (ARG90e51)Argentinien, Bsp. 2:
„(...) gente que nos llena de orgullo (...)“ (ARGa2403)Argentinien, Bsp. 3:
„Friedrich Merz es el próximo canciller alemán (...)“ (ARG4a55e)Argentinien, Bsp. 4:
„Bueno, mañana también está previsto que llueva todo el día, mañana miércoles (...)“ (ARG5e590)Für den Unterricht bedeutet das: Man kann dem yeísmo ganz entspannt begegnen. Wenn Lehrwerke noch die traditionelle lautliche Unterscheidung zwischen
und erwähnen, lohnt es sich, das einzuordnen und kurz zu erklären, dass diese Unterscheidung in der Realität kaum noch vorkommt. Unterrichtet wird schließlich eine lebendige Sprache, keine reine „Schulbuchsprache“.Über sprachliche Identität ins Gespräch kommen
Das Phänomen yeísmo und seine Variation lässt sich wunderbar nutzen, um über regionale Eigenheiten und sprachliche Identität ins Gespräch zu kommen. In der Region um Buenos Aires zum Beispiel ist die sh-Aussprache ein Identifikationsmerkmal für die Sprecher:innen, das außerdem in der gesamten spanischsprachigen Welt mit Argentinien assoziiert wird (auch wenn es nicht typisch für alle Teile Argentiniens ist!).
Für viele Schüler:innen kann es spannend (und motivierend!) sein, solche Varianten auszuprobieren. Hier kann man natürlich darauf verweisen, dass es auch im Deutschen regionale Unterschiede gibt – etwa in der Aussprache von Milch als „Milsch“
oder sogar „Mik“ , wie man sie aus verschiedenen süddeutschen Regionen kennt. Wichtig ist im Vergleich allerdings, dass žeísmo und šeísmo in Buenos Aires dort zur Aussprachenorm gehört und nicht als ‚falsch‘ oder ‚schlecht‘ bewertet wird./s/ am Silbenende: Abschwächung und Schwund¶
In vielen Klassenzimmern klingt das Spanische glasklar: Jedes geschriebene <s>
, auch am Silbenende und am Wortende, wird deutlich ausgesprochen. Doch in der spanischsprachigen Welt ist das nicht überall der Fall. In vielen Regionen, insbesondere in der Karibik, in Teilen Mittelamerikas und im südamerikanischen Tiefland, und auch im Süden Spaniens sowie den Kanaren, wird das am Silbenende stark abgeschwächt (häufig aspiriert als ) oder sogar ganz ausgelassen (im Spanischen sagt man dazu manchmal „se comen las eses“).
Ein Beispiel: los mismos kann ausgesprochen werden als
- → Artikulation als
- → Abschwächung als (Aspiration)
- → Schwund (Elision)
Wo kommt es zur Abschwächung, wo nicht?¶
Die Abschwächung ist kein Zufall. Dass sie am Silben- und Wortende vorkommt, liegt daran, dass in allen romanischen Sprachen offene Silben bevorzugt werden (CV statt CVC) und Konsonanten am Silbenende daher häufiger ‚in Gefahr sind‘ (vgl. z.B. septiembre vs. setiembre). Der Prozess, der im Französischen schon vor vielen Jahrhunderten abgeschlossen wurde (z.B. dans les maisons →
), lässt sich in Teilen der Hispanophonie heute gut beobachten. Typisch ist die Abschwächung des in den sogenannten Tieflandvarietäten – also in Regionen in Küstenlage oder auf Inseln. Dazu zählen etwa die Karibik (z. B. Kuba, Dominikanische Republik), die Küstengebiete Kolumbiens, Perus und Ekuadors, große Teile Venezuelas, aber auch der südliche Teil Andalusiens sowie die Kanarischen Inseln. Auch für das Tiefland Argentiniens (Buenos Aires) und für Chile ist das Phänomen charakteristisch.Ganz wichtig: In vielen dieser Gebiete ist die Abschwächung nicht nur verbreitet, sondern gilt selbst in formelleren Kontexten als gute Aussprache, d.h. die Abschwächung gehört dort zur regionalen oder manchmal sogar nationalen Norm (z.B. Kanaren, Chile, Argentinien).
Hör mal (Abschwächung des /s/)
Die folgenden Ausschnitte aus Radiosendungen veranschaulichen das Phänomen. Wenn doch ein silben- oder wortfinales
als artikuliert wird, dann weil es vor einer Pause oder vor Vokal vorkommt. Vor Konsonant hört man (auch im Wort) entweder nichts oder eine Aspiration . Beachte, dass hier Radiomoderator:innen sprechen, es handelt sich also um eine Aussprache, die der ‚guten Aussprache‘ des jeweiligen Landes (oder der Region) entspricht:Chile, Bsp. 1:
„(...) revisamos algunas de las informaciones internacionales que han marcado las últimas horas (...)“ (CHI124b8)Chile, Bsp. 2:
„Cinco delincuentes, todos menores de edad, serían los responsables de esta agresión.“ (CHI4b4dd)Argentinien, Bsp. 1:
„(...) para las más prestigiosas marcas y a iluminar las portadas de revistas de moda internacionales.“ (ARG1a934)Argentinien, Bsp. 2:
„Muchos de los votantes de Javier Milei no están de acuerdo con su negacionismo del cambio climático (...)“ (ARG7a5fc)Kanaren (Spanien), Bsp. 1:
„(...) el reparto de los menores no acompañados entre todas las comunidades autónomas (...)“ (ES-CAN3a6b4)Kanaren (Spanien), Bsp. 2:
„Además, las temperaturas medias que han llegado a ser de un grado y (...)“ (ES-CANe8498)Die Hochlandregionen hingegen – dort liegen etwa Mexiko-Stadt, Bogotá, Quito oder La Paz – zeichnen sich durch eine klare Artikulation des
auch am Silbenende aus. Dies steht nicht nur in geographischem, sondern oft auch in historischem Zusammenhang: Diese Städte waren während der Kolonialzeit enger mit den spanischen Zentren verbunden, in denen das ebenfalls deutlich gesprochen wird. Dort wird die Abschwächung des daher eher als Abweichung von der Norm bewertet. Die Abschwächung wird hier mit informelleren Redesituationen und manchmal sogar mit einem niedrigeren Bildungsgrad assoziiert, besitzt also eine situationelle und soziale Dimension. Die Bewertung desselben Phänomens kann also je nach Ort, Region und Land ganz anders ausfallen!Hör mal (Realisierung des /s/)
Die folgenden Ausschnitte aus Radiosendungen veranschaulichen, dass das /s/ im hispanoamerikanischen Hochland typischerweise in jeglichem Kontext als
realisiert wird und eindeutig zur jeweilen Hauptstadtnorm gehört.Mexiko, Bsp. 1:
„Hasta aquí los espectáculos, regresamos al estudio.“ (MEXa9322)Mexiko, Bsp. 2:
„¿Quieres anunciarte en este y en muchos otros podcasts?“ (MEX23a52)Kolumbien, Bsp. 1:
„Queremos que estés informado en todo momento.“ (COL3a2b4)Kolumbien, Bsp. 2:
„La ONU está pidiendo la investigación internacional sobre las vulneraciones a los derechos humanos en la guerra entre Hamas e Israel.“ (COL807c6)Ecuador, Bsp. 1:
„Listos, entonces, para llevarles a ustedes todas las noticias del Ecuador y del mundo.“ (ECU73261)Ecuador, Bsp. 2:
„Los disparos se escucharon mientras Trump estaba criticando la migración ilegal.“ (ECU46847)Bolivien, Bsp. 1:
„Bienvenidos a las noticias de la hora.“ (BOLc1dbc)Bolivien, Bsp. 2:
„(...) un bochorno que pasaría a la historia del abuso de la justicia constitucional.“ (BOLe17df)Und was bedeutet das für den Unterricht?¶
Wie bei anderen Aussprachevarianten gilt auch hier: Nicht bewerten, nicht korrigieren – aber thematisieren.
Die Variation der s-Aussprache bietet eine hervorragende Gelegenheit, um über regionale Vielfalt, Sprachregister und die sozial bedingte Bewertung von Sprachgebrauch ins Gespräch zu kommen. Lernende begegnen dieser Form früher oder später – sei es in Liedern, Serien, Videos oder auf Reisen. Wer z.B. estos amigos als
hört, sollte verstehen, dass es sich nicht um eine ‚fehlerhafte‘ oder ‚schlechte‘ Artikulation handelt, sondern um eine regionale und kontextabhängige Aussprachevariante.Auch hier kann die Thematisierung der Variation mit fortgeschrittenen Schüler:innen zur Sprachbewusstheit beitragen und den plurizentrischen Blick auf das Spanische im Unterricht fördern.
Weitere Phänomene¶
Die oben behandelten Phänomene sind bereits die wichtigsten und auffälligsten, wenn es um Aussprachevariation und ihre Thematisierung im Unterricht geht. Es gibt natürlich noch weitere Merkmale, aber sie werden nur kurz angesprochen für den Fall, dass sie einmal in authentischem Material auftauchen. Sicherlich wird es nur in seltenen Fällen möglich sein, so tief in die Aussprachevariation einzutauchen.
Zu nennen ist hier die sogenannte Velarisierung des /n/, bei der das /n/ weiter hinten artikuliert wird, wie in engl. sing Song von Bad Bunny).
. Das passiert vor allem am Wortende, z.B. in pan anstelle von . Teilweise wird der Laut sogar abgeschwächt, sodass nur eine Nasalisierung des Vokals bleibt (wie im Französischen übrigens!). Das Phänomen kommt in verschiedenen Teilen Spaniens vor und hat sich aus dem südspanischen Spanisch auch in Hispanoamerika verbreitet, wo es ein Kennzeichen besonders ‚progressiver‘ Varietäten ist, also wieder vor allem die Karibik und Küstenregionen betrifft. Typisch für karibische Varietäten sowie Teile Andalusiens ist auch die Vertauschung oder Angleichung von und am Silbenende. So kann etwa amor als amol oder soldado als sordado ausgesprochen werden. Ein bekanntes Beispiel ist auch die Aussprache von Nueva York als (vgl. denAussprache im Unterricht: Praktisch und ‚anhörlich‘¶
Der Spanischunterricht in Deutschland orientiert sich traditionell stark am peninsularen Spanisch, doch Spanisch ist eine plurizentrische Weltsprache, die in über 20 Ländern mit unterschiedlichen Aussprachemustern gesprochen wird. Als (zukünftige) Lehrkraft für Spanisch trägst Du Verantwortung dafür, nicht nur Sprache, sondern auch sprachliche Vorstellungen zu vermitteln – insbesondere, was als ‚richtige‘ oder ‚gute‘ Aussprache gilt. Im schulischen Alltag lässt sich Aussprachevielfalt auf einfache und wirksame Weise integrieren:
-
Transparenz von Anfang an: Von Beginn an deutlich machen, dass es im Spanischen mehrere korrekte Aussprachen gibt – und dass nationale und regionale Unterschiede normal sind.
-
Reflexion statt Korrektur: Wenn eine Schülerin z.B. seseo verwendet, bietet es sich an, den Unterschied zur distinción kurz zu thematisieren.
-
Einblick in Diversität: Etwa durch kleine Projektformate, in denen verschiedene Varietäten vorgestellt werden (z.B. über Songs, Audiobeispiele, Videos).
-
Stereotype ansprechen und dekonstruieren: Gerade beim Interdentallaut
lohnt sich ein sprachvergleichender Blick (z.B. mit dem Englischen) – und ein Gespräch darüber, warum manche Schüler:innen diesen Laut ‚komisch‘ finden.
Niemand muss alle Varianten beherrschen oder vermitteln. Es genügt, wenn Lernende eine passive Aussprachekompetenz entwickeln – also etwa erkennen, dass Barcelona mit oder ohne
gesprochen werden kann, dass pollo in Argentinien anders klingt als in Mexiko oder dass comer in Kuba auch mal als comel ausgesprochen wird.Diese Ansätze lassen sich individuell und flexibel in den eigenen Unterricht integrieren – je nach Sprachniveau, Thema oder Klassenzusammensetzung. Diese Vielfalt sollte im Unterricht hörbar werden – oben im Kapitel finden sich dazu zahlreiche Beispiele zum Anhören, und unter 3.2 Plurizentrik im Klassenzimmer finden sich weitere Anregungen, wie man anschauliches und anhörliches Material gezielt einsetzen kann.
Wir fassen noch einmal zusammen
Plurizentrik ist die Basis – eine einzige „richtige“ Aussprache gibt es nicht. Spanisch wird in mehr als 20 Ländern gesprochen; regionale, soziale und situationsabhängige Varianten gehören zum Normalfall. Deshalb sollte Unterricht immer auch Haltung vermitteln: Variation anerkennen statt stigmatisieren.
Die wichtigsten Unterschiede:
- Distinción vs. Seseo – Unterscheidung ( vs. ) nur in Teilen Spaniens; in der Mehrheit der Hispanophonie ist seseo Norm.
- Yeísmo (inkl. žeísmo/šeísmo) – und werden heute fast nirgendwo mehr unterschieden, fast überall wird ausgesprochen; der Río de la Plata-Raum weist die Besonderheit auf, dass hier ein ‚sch-Laut‘ gesprochen wird.
- -Abschwächung oder -Schwund am Silben- bzw. Wortende (Aspirierung oder Elision Ø) prägt Karibik, Tiefland-Amerika, Südandalusien, Kanaren und gehört immer öfter zur Normaussprache dieser Gebiete.
Bewusst entscheiden, ob seseo oder nicht, Unterschiede transparent machen und Audiobeispiele nutzen. Fortgeschrittene Lernende sollen passive Aussprachekompetenz entwickeln – also Varianten erkennen, einordnen und wertschätzen, auch wenn sie aktiv nur eine Variante produzieren.
Wer mehr wissen will (klickt hier)
Wer mehr über die Aussprachevariation wissen will, findet grobe Übersichten zu seseo und yeísmo im Diccionario panhispánico de dudas (DPD, RAE/ASALE 2025). In den unter „Literatur“ angegebenen Büchern und Überblicksdarstellungen werden die hier betrachteten Variationsphänomene ebenfalls in mehr oder weniger übersichtlicher Weise dargestellt und vertieft. Wer es ganz genau wissen will, der kommt um Band 3 der Nueva gramática de la lengua española (RAE/ASALE 2011) nicht herum. Tacke (2020) gibt einen kompakten Überblick zur Aussprachenorm im Spanischen und zeigt, dass diese plurizentrisch selbstreguliert ist, weshalb Variation der Normalfall bleibt. Für wissenschaftliche Arbeiten über das Thema sind die genannten Titel natürlich nur der Ausgangspunkt.
Studien belegen, dass Aussprachevariation im ELE-Unterricht zwar anerkannt, aber unterschiedlich umgesetzt wird: Die ASELE-Akten ¿Qué español enseñar? (Martín Zorraquino/Díez Pelegrín 2000) protokollieren erste Befragungen zur Wahl der Ziellautung; Leitzke-Ungerer/Polzin-Haumann (2017) zeigen für den deutschsprachigen Unterricht, dass Lehrwerke und Prüfungen regionale Lautmerkmale nur punktuell einbauen; Andión (2013) weist nach, dass Lehrkräfte ihre eigene Variante nutzen, sich jedoch bei der Vermittlung mehrerer Lautbilder oft unsicher fühlen.
Konkrete Antworten liefert Moreno Fernández (2000) mit Kriterien für ein bewusst gewähltes Varietäten-Modell. Das Handbuch La diversidad del español y su enseñanza (Hernández Muñoz et al. 2021) ergänzt kommentierte Unterrichtsbeispiele zu seseo, yeísmo & Co., während Poch Olivé (2024) eine komplette Sequenz zur Wahrnehmung und Produktion verschiedener Lautvarianten vorlegt.
Authentische Hörbelege zu nationalen Standardvarietäten bietet das CO.RA.PAN-Korpus (Tacke 2025ff.). Die Sammlung umfasst Radioaufnahmen professioneller Sprecher:innen aus allen hispanophonen Ländern und macht so typische lautliche Merkmale (z. B. seseo, Aspiration von /s/) in standardnahen Kontexten vergleichbar. Nach Registrierung („Acceso“) lassen sich die Audiodaten nach Land, Sendungs- und Sprechsituation filtern, anhören und (auch für den Schulunterricht) nutzen. Mehr dazu im folgenden Kapitel.
Literatur¶
- Andión, María Antonieta (2013): „Los profesores de español L2/LE y las variedades: Identidad dialectal, actitudes y prácticas docentes“. Revista Signos. Estudios de Lingüística, 46 (82), 155–189.
- Gabriel, Christoph / Meisenburg, Trudel / Selig, Maria (2025): Spanisch: Phonetik und Phonologie. Eine Einführung. 2. überarbeitete Auflage. Tübingen: Narr Francke Attempto.
- Hernández Muñoz, Natividad / Muñoz-Basols, Javier / Soler Montes, Carlos (Hg.) (2021): La diversidad del español y su enseñanza. London/New York: Routledge.
- Hualde, José Ignacio (2014): Los sonidos del español. Cambridge: Cambridge University Press.
- Kubarth, Hugo (1987): Das lateinamerikanische Spanisch. Ein Panorama. München: Hueber.
- Leitzke-Ungerer, Eva / Polzin-Haumann, Claudia (Hg.) (2017): Varietäten des Spanischen im Fremdsprachenunterricht. Ihre Rolle in Schule, Hochschule, Lehrerbildung und Sprachenzertifikaten. Stuttgart: ibidem.
- Lipski, John M. (1994): Latin American Spanish. London/New York: Longman.
- Lipski, John M. (2020): „Spanish Phonological Variation“. In: Sonia Colina / Fernando Martínez-Gil (Hg.): The Routledge Handbook of Spanish Phonology. London/New York: Routledge, 455–469.
- Martín Zorraquino, M. Antonia / Díez Pelegrín, Cristina (Hg.) (2000): ¿Qué español enseñar? Norma y variación lingüísticas en la enseñanza del español a extranjeros. Actas del XI Congreso Internacional de ASELE (Zaragoza, 13.–16. 9. 2000). Zaragoza: Universidad de Zaragoza.
- Moreno Fernández, Francisco (2000): ¿Qué español enseñar? Madrid: Arco Libros.
- Poch Olivé, Dolors (2024): „Variación fonética y enseñanza del español“. Variación. Revista de variación y cambio lingüístico, 1 (2), 18–30.
- Pustka, Elissa / Schwegler, Armin (2021): „Fonética y fonología: vocalismo y consonantismo“. In: Eva Martha Eckkrammer (Hg.): Manual del español en América. Berlin/Boston: De Gruyter, 451–464.
- Real Academia Española / Asociación de Academias de la Lengua Española (2011): Nueva gramática de la lengua española. Band 3: Fonética y fonología. Madrid: Espasa Calpe.
- Real Academia Española / Asociación de Academias de la Lengua Española (2005): Diccionario panhispánico de dudas. Madrid: Santillana. Online: https://www.rae.es/dpd/
- Tacke, Felix (2020): „Spanish: Orthography and Orthoepy“. In: Franz Lebsanft / Felix Tacke (Hg.): Manual of Standardization in the Romance Languages. Berlin/Boston: De Gruyter, 559–579.
- Tacke, Felix (2025): CO.RA.PAN – Corpus Radiofónico Panhispánico. Marburg. Online: https://corapan.online.uni-marburg.de
Dieses Kapitel zitieren
Freyre Castro, Renata / Tacke, Felix (2025): „Aussprachevariation“. In: Tacke, Felix (Koord.): Spanische Linguistik @ School. Marburg: Universität Marburg. Online: https://linguistik.online.uni-marburg.de/ DOI: 10.5281/zenodo.15348687
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Autor:innen: Renata Freyre Castro, Felix Tacke
Beiträge & Peer-Review: Gloria Gabriel, Lea-Marie Domin, Marlon MerteLetzte Änderung: 25.07.2025 ↩